23.03.2023

Stolpersteine und Biografien

Allein im März 2023 verlegten der Künstler Gunter Demnig und der Hamburger Organisator Peter Hess 90 Stolpersteine in Hamburg. Ein exemplarischer Blick auf nur einige der Paten, also der Sponsoren dieser Steine, zeigt, wie breit inzwischen das Spektrum der Menschen und Institutionen ist, die sich hier engagieren. Beispielsweise erinnert jetzt ein Stolperstein im Harvestehuder Weg 112 an Hilde Fanny Weinrich. Die Patenschaft haben 18 Studierende der University of Southern Mississippi aus Hattiesburg übernommen: Sie hatten sich auf einer Deutschlandreise im Januar in St. Nikolai über die Hamburger Stolpersteinforschung informiert und Heinz-Otto Haag hatte ihnen über die bisherige und künftige Arbeit berichtet, so dass sie spontan die Kosten für diesen Stolperstein übernahmen. Oder: In der Innocentiastraße 37 wurden vor der ehemaligen portugiesischen Synagoge in Anwesenheit des Landesrabbiners Shlomo Bistritzky gleich acht Steine für die Familie des Kantors Sarfaty gesetzt, für die Schülerinnen der Ilse-Löwenstein-Schule mit phantasievollen Aktionen Geld gesammelt hatten. Fünf Stolpersteine ließ der Künstler Michael Batz in der Rothenbaumchaussee verlegen, sie wurden durch die enorme Resonanz zu seinem Buch „Das Haus des Paul Levy“ ermöglicht. Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin erinnerten in der Hagedornstr. 14 mit einem Stolperstein an die emigrierte Internistin Dr. Gertrud Samson. Zu vielen Verlegungen waren wieder Angehörige, teils von weit her angereist, und wie stets begleiteten Mitglieder der Stolperstein-Biographiegruppe sie, wenn sie auch die Wohnorte oder Grabstätten ihrer Familien aufsuchen wollten.

Inzwischen erinnern mehr als 6.500 Stolpersteine in Hamburg an NS-Opfer.

 

In letzter Zeit wurden vor allem in der Altonaer Wohlersallee und angrenzenden Straßen etliche Stolpersteine für jüdische Großfamilien verlegt, die im Rahmen der sogenannten Polen-Aktion im Oktober 1938 ins Grenzgebiet verschleppt und größtenteils später im deutsch besetzten Polen ermordet wurden. Vor allem Ingo Willes biographische Recherchen und sein Kontakt zu emigrierten Familienangehörigen tragen auch inhaltlich wesentlich zur Erhellung dieses im Detail noch nicht hinreichend bekannten NS-Verbrechens bei.

 

Die Stolperstein-Biographiegruppe konnte im Januar 107 neue Lebens- und Familiengeschichten auf die Website www.stolpersteine-hamburg.de stellen. Damit sind nunmehr bei 4745 Personen biographische Texte verlinkt, von denen ein Großteil ins Englische übersetzt ist. Die hohe Zahl im Januar ergibt sich auch daraus, dass die Biographien des zum Jahresende erschienenen, von Margot Löhr herausgegebenen Doppelbandes „Stolpersteine in Hamburg- Fuhlsbüttel, Langenhorn, Ohlsdorf und Klein Borstel“ darin enthalten sind. Aber auch im Februar 2023 sind sieben neue Biographien hinzugekommen, etliche weitere sind in Arbeit.

 

Immer wieder erreichen die Stolperstein-Biographiegruppe Anfragen per e-mail oder Bitten um die Unterstützung anderer Projekte in Hamburg. Meist geht es um das forschungsmäßige Knowhow. Soweit dies möglich ist, helfen die Projektbeteiligten gern und geben ihr in der Biographieforschung erworbenes Wissen weiter. Christina Igla beispielsweise begleitet seit einigen Monaten unterstützend SchülerInnen der 10. Klasse des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums, die mit ihren Geschichtslehrer Simon Raß den Schicksalen der ehemaligen jüdischen Schülerinnen nachgehen. Mit Iglas Hilfe konnten diese bereits 90 Namen von Mädchen, die in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Schule besuchten, eruieren und oftmals auch schon deren weiteren Lebensweg nachvollziehen. Im Sommer sollen einige Stolpersteine verlegt und beim Schuljubiläum an die ehemaligen Schülerinnen erinnert werden.

 

Zudem geben StolpersteinforscherInnen die Ergebnisse ihrer Arbeit oder ihre Erfahrungen vielerorts weiter: Dr. Inge Grolle hat beispielsweise in einem sehr lesenswerten Interview ihre Arbeit in der Stolperstein-Gruppe rekapituliert. Sie hatte mit Christina Igla den Band „Grindel I“ herausgegeben. Titel: „Die Erforschung einer einzelnen Biographie schärft den Blick für das ungeheuerliche Gesamtgeschehen“ (Newsletter des Freundeskreises Neuengamme: WeiterMachen für Erinnerung in der Gegenwart /2023). Ein anderes Beispiel: Vor einem interessierten Publikum im Bezirksamt Hamburg-Nord hat Johannes Grossmann im Rahmen der dortigen „Woche des Gedenkens“ die Lebensgeschichte des Walter Schulz erläutert, der als renitenter Jugendlicher gegen die HJ opponierte und so in die Mühlen des NS-Verfolgungsapparates geriet, was schließlich zu seinem Tod führte. Mit der akribischen Recherche hat Grossmann so eine kleine Gruppe NS-Opfer in den Blick gerückt, die bisher wenig Beachtung gefunden hat.

Die Bemühungen der Projektbeteiligten, die Biographien in die Öffentlichkeit einzubringen, gehen natürlich weiter: So wird beispielsweise am 7.5. (14 Uhr) Ingo Wille (zusammen mit Michael Batz und Miriam Rürup) in der Tempelruine die Geschichte der Familie Zuckermann aus der Poolstr. 12 nachzeichnen.

 

Beate Meyer