Gerade in der jüngeren Vergangenheit ist das von Juden (und Muslimen) praktizierte Schächten in mehreren europäischen Staaten auf den legislativen Prüfstand gerückt, in denen die Durchführung von rituellen Tierschlachtungen ohne vorherige Betäubung durch restriktive Rechtsnormen zunehmend erschwert oder sogar gänzlich unterbunden wird. Konkrete Pläne, das Schlachtrecht auch in Deutschland zu revidieren, existieren derzeit nicht, doch sind religiöse Schlachtungen ins Visier eines Rechtspopulismus geraten, dessen politische Bemühungen auch die jüdischen Gemeinden mit Besorgnis beobachten. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist freilich, dass um die religiöse Schlachttradition der Juden in Westdeutschland schon während der frühen Nachkriegsjahre politische, juristische und gesellschaftliche Konflikte ausgetragen wurden, die als Ventil dienten, um sowohl das Judentum als Religion als auch die Juden als Kollektiv zu marginalisieren, zu diskreditieren und zu kriminalisieren.
Anknüpfend an diese Beobachtungen zielt das Forschungsprojekt darauf, die koschere Fleischversorgung bzw. den koscheren Fleischkonsum der im Nachkriegsdeutschland lebenden Jüdinnen und Juden in den Blick zu nehmen, dabei aber zugleich die Diskussionen um die koschere Fleischproduktion zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Es soll darum gehen, diese Geschichte in einer Monografie auf breiter empirischer Grundlage zu rekonstruieren und damit ein Stück weit ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Dabei wird sich die Chronologie im Kern auf den Zeitraum zwischen Kriegsende (bzw. der Gründung der Bundesrepublik 1949) und der Mitte der 1960er-Jahre (mit einem Ausblick auf die Verabschiedung des Tierschutzgesetzes im Jahr 1972) beziehen – mithin das Augenmerk auf eine Epoche der jüngeren westdeutschen Vergangenheit richten, in der sich der Streit über die Betäubungspflicht warmblütiger Tiere noch vornehmlich auf die Glaubenspraxis der jüdischen Gemeinschaft bezog.
Die Forschung strebt zugleich Erkenntnisse an, die sich auf die allgemeine Verfasstheit sowohl der jüdischen Nachkriegsgemeinschaft als auch der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft nur wenige Jahre nach dem Zivilisationsbruch beziehen bzw. die dazu beitragen, das komplexe jüdisch-nichtjüdische Verhältnis seit 1945 zu deuten und einzuordnen. Wenn es zugleich nach den politischen Strategien der jüdischen Gemeinden und Organisationen in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Akteuren der Mehrheitsgesellschaft fragt, ist das Projekt zugleich bestrebt, disziplinäre Schranken zwischen jüdischen Studien, der deutsch-jüdischen Geschichte und allgemeiner deutscher Zeitgeschichte einzuebnen. Zu diesem Ziel setzt die Untersuchung auf eine Vielfalt verwobener Perspektiven, die uns ermöglichen, sowohl jüdische als auch nichtjüdische Handlungsträger sowie deren Beziehungen in den Blick zu nehmen.
PD Dr. Andreas Brämer
040 42838-2617
andreas.braemer[at]igdj-hh.de
Dr. Fabian Weber
040/42838 - 2617
fabian.weber[at]igdj-hh.de