In dieser ersten bundesweit durchgeführten quantitativen und qualitativen Erhebung wurden junge russischsprachige Jüdinnen und Juden, die in den 1990er Jahren als Kinder und Jugendliche mit ihren Familien aus der Sowjetunion bzw. den postsowjetischen Staaten eingewandert sind, zu ihrem Leben und Aufwachsen in Deutschland befragt. Die jungen Erwachsenen sprechen über ihre Erfahrungen als »Russen« und Juden in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, über soziale Aufstiege und Diskriminierungen und ihr Verhältnis zu Deutschland und Israel, über familiär geprägte Erinnerungskulturen und jüdische Selbstverständnisse zwischen mehrheitlich säkular geprägten Lebensentwürfen und religiösen Suchprozessen.
Die Studie gewährt Einblicke in verschiedene Lebensbereiche der jungen Erwachsenen sowie in deren Selbstverständnisse und Praxen als Jüdinnen und Juden in Deutschland. Sichtbar werden die sozialen Aufstiege einer jungen Generation, die einer hochqualifizierten Migrationsgruppe entstammt, aber auch deren mehrfache Ausgrenzungserfahrungen als Juden, »Russen« und Migranten in Deutschland. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutete die Migration jedoch nicht allein, eine andere Sprache und kulturelle Codes lernen zu müssen, sondern auch auf ein anderes Verständnis von Judentum zu treffen. Dies gilt für die Organisation der hiesigen jüdischen Gemeinschaft als Religionsgemeinschaft, aber auch in Bezug auf ein kollektives jüdisches Selbstverständnis, für das die Erfahrung des Holocaust sowie die daraus entstandenen Formen der Erinnerungskultur konstitutiv für das Verhältnis zwischen Juden und die sie umgebende nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft sind. Vor diesem Hintergrund äußern sich die jungen Erwachsenen über ihr Verhältnis zu Deutschland und zu Israel, über ihr Verständnis vom Judentum und ihr eigenes Jüdischsein zwischen ethnischer Herkunft, säkularer Prägung und religiöser Orientierung und einer familiär geprägten Erinnerungskultur, in der sowohl der Holocaust als auch der Zweite Weltkrieg ihren Platz haben.
In ihren Aussagen zeichnet sich ein selbstverständlicher Anspruch auf ein Leben in Deutschland ab sowie eine sich pluralisierende Erinnerungskultur an den Holocaust, die neben dem Gedenken an die jüdischen Opfer auch die jüdischen Soldaten der Roten Armee einschließt, die das nationalsozialistische Deutschland besiegt haben. Sichtbar werden zudem innerjüdische Selbstverständigungen und Konfliktlagen, die sich zum einen an der Frage entzünden, wie es künftig um die sogenannten Vaterjuden steht, die sich als jüdisch verstehen und in der Sowjetunion auch als Juden galten, nach dem jüdischen Religionsgesetz jedoch nicht zur jüdischen Gemeinde gehören. Zum anderen lässt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Religion und Säkularität beobachten, dass sich sowohl in der Organisationsform der Gemeinden niederschlägt als auch jenseits davon in neuen religiösen Sozialformen und posttraditionalen Gemeinschaften zur Geltung kommt.
Das Forschungsprojekt wurde 2022 mit der Publikation des Buches „Lebenswirklichkeiten. Junge russischsprachige Juden in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“ beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht abgeschlossen (mit einem Beitrag von Andreas Gotzmann).