Migrationsgeschichte, Jüdische Religionsgeschichte

Die Studie zu Fritz Pinkuss (1905–1994) eröffnet den Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts und weist gleichsam über diesen geopolitischen Raum hinaus. Denn 1936 flüchtete der Rabbiner Pinkuss mit seiner Familie nach São Paulo/Brasilien und begründete dort die Congregação Israelita Paulista (CIP), eine Gemeinde, die sich den Herausforderungen der Moderne in Brasilien und den Nachwirkungen der Verdrängungs- und Vernichtungserfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland stellen musste.

Die Aufarbeitung der Biografie ermöglicht es, Fragen zum Selbstverständnis deutsch-jüdischer Reform-Rabbiner, deren Vorstellung von nationaler Selbstverortung, sozialer Verpflichtung und religiöser Modernisierung zu stellen. Neben seiner religiösen Ausbildungszeit am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin rückt daher auch seine Zeit als Oberrabbiner Heidelbergs ins Zentrum. Darüber hinaus untersucht das Projekt seine Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland, wie z. B. die Verfolgung seiner Familie und Gemeinde, aber auch die Solidaritätsbekundungen, z. B. von Hermann Maas, einem evangelischen Geistlicher und Pionier des christlich-jüdischen Dialogs.

Aber auch Pinkuss Jahre in Brasilien werden in den Blick genommen: nicht nur seine religiöse Aufbauarbeit in der CIP/São Paulo, sondern auch sein soziales und politisches Engagement in der brasilianischen Stadtgesellschaft. Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Militärdiktatur ist sein Leben und Wirken als Mahner für Gerechtigkeit und Frieden besonders interessant. Und, sein Engagement als „Brasilianer und Europäer“ für eine Wiederannäherung von Deutschen und Juden nach dem Holocaust schlägt zudem den Bogen zu seinem ursprünglichen Heimatland Deutschland nach 1945.

Die biografische Studie, die die weltweit verstreuten Archivmaterialien zusammenführt, stellt ein Leben ins Zentrum, das stellvertretend für viele deutsch-jüdische Emigrationsgeschichten steht und die globale Dimension des Nationalsozialismus, aber auch die Präge- und Lebenskraft des deutschen Judentums vor und nach 1945 sichtbar macht.

Dr. Björn Siegel
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