Die Eskalation des Holocaust nach dem Überfall auf die Sowjetunion ging einher mit der öffentlichen Versteigerung von jüdischem Eigentum in Deutschland. Die örtlichen Behörden öffneten und räumten versiegelte Wohnungen und veräußerten ihre Bestände innerhalb weniger Tage nach der Deportation der Bewohner. Auf diese Weise profitierten die Käufer und Mieter der verlassenen Wohnungen von dem Eigentum der dem Untergang geweihten Familien. Dieses Projekt untersucht die Beziehungen der neuen Bewohner und Mieter zu ihrem neuen Besitz. Was bedeutete es, in einem fremden Schlafzimmer zu schlafen? Versuchten die neuen Mieter, die Herkunft ihrer Errungenschaften zu vergessen oder darüber zu lügen? Wurden sie von ihnen heimgesucht? Das Projekt zielt darauf ab, die emotionalen Folgen der Komplizenschaft mit einer völkermörderischen Diktatur aufzuzeigen. Es soll zeigen, wie sich nichtjüdische Menschen gleichzeitig materiell bereicherten und emotional damit zurechtkamen - oder es eben nicht schafften.
Seit dem Ende des ‚Dritten Reichs‘ haben sich Historiker gefragt, was gewöhnliche nicht-jüdische Deutsche über den Holocaust wussten, dachten oder fühlten. Sie haben sich mit der Beantwortung dieser Fragen schwergetan und auf den Mangel an zuverlässigen Beweisen in einer politisch unterdrückten und ideologisch manipulierten Gesellschaft hingewiesen. Das Projekt wird die affektiven Folgen des Miterlebens und des materiellen Nutzens eines sich entfaltenden Völkermordes aufzeigen, indem es die oben genannten Fragen am Beispiel des Wohnens untersucht. Das Wohnen war sowohl ausgesprochen intim als auch hochpolitisch. Er berührt die soziale Phantasie (z. B. ‚Inflationsgewinnler‘, ‚Miethaie‘) ebenso wie Fragen der öffentlichen Gesundheit und der Verteilung öffentlicher Güter. Im Nationalsozialismus war sie auch rassistisch aufgeladen, einmal als Ideologie des "arischen" "Blutes und Bodens", dann als Instrument der Rassenverfolgung. In einer Gesellschaft, die darauf trainiert war, sich gegenseitig zu bespitzeln, zu verpfeifen und zu bespitzeln, bietet uns die genaue Analyse des Wohnungswesens Einblicke in ein viel breiteres soziales Spektrum. Methodisch verbindet das Projekt mikrohistorische Ansätze, Alltagsgeschichte und die Geschichte der Emotionen.
Dr. Carolin Dorothée Lange
040 42838-2617
carolin.lange[at]igdj-hh.de
Sprechzeiten: nach Vereinbarung